Unser Arbeitsleben ist häufig geprägt von Stress, Überforderung und dem Gefühl fehlenden Sinns. Jede:r dritte Arbeitnehmer:in in Deutschland fühlt sich ausgebrannt, und mit dem vermehrten Auftreten des HomeOffice kann ein Isolationsgefühl dazukommen. Mindful Coworking dient dazu, Achtsamkeit in das Arbeitsleben zu integrieren und damit eine Antwort auf diese Herausforderungen unserer Zeit zu geben.
Vom Meditationskissen zum Mindful Coworking
Wenn wir uns auf dem Meditationskissen wohl fühlen und unsere Praxis eine gewisse Stabilität erreicht hat, sind wir eingeladen, unsere Achtsamkeitspraxis auf unser alltägliches Leben auszuweiten, um die Achtsamkeit für uns und andere wirken zu lassen. Viele von uns tun das in Form von achtsamer Kommunikation, achtsamem Sprechen und tiefem Zuhören, achtsamem Entscheiden, kleinen Achtsamkeitspausen im hektischen Alltag und vielem mehr.
Ein großer Teil unseres Alltags, der von vielen Menschen als (teilweise) leidvoll empfunden wird, ist unsere Arbeit. Achtsamkeit hat das Potenzial, auch diesen Lebensbereich zu transformieren, doch im Arbeitsalltag ist es oft schwieriger, die Achtsamkeit aufrechtzuerhalten. Arbeit ist ein hochkomplexer Prozess, bei dem wir sowohl uns selbst (unsere Impulse, Ideen, Bedürfnisse, Gedanken, Gefühle, Werte, Anspruch an Sinn, Handlungen, u.v.m.) als auch alle diese Elemente anderer Personen, sei es unserer Kund/innen, Chefs und Kolleg/innen, zielgerichtet balancieren müssen. Kein Wunder, dass uns dieser Prozess oft überfordert und unser Kontakt mit uns selbst sowie unsere Achtsamkeit darunter leiden.
Mindful Coworking entstand aus dem Bewusstsein, wie schwierig es ist, als Einzelperson achtsam zu arbeiten. Die Idee des Mindful Coworking ist daher, sich Weggefährten zu suchen und gemeinsam, in einem geschützten Rahmen, achtsame Arbeit zu praktizieren. Dabei wird die Achtsamkeit in reale Arbeitskontexte übertragen. Das können Tätigkeiten sein wie Staubsaugen, E-Mails schreiben oder ein Excel-Blatt bearbeiten.
Die Klangschale dröhnt durch die Lautsprecher von Lauras Laptop in ihrer kleinen Studio-Wohnung in Berlin. Etwas blechern klingt es, doch Laura schließt unbeirrt die Augen und atmet einmal tief durch. Dann arbeitet sie weiter. An sieben anderen Orten in Deutschland tun es ihr ihre Kolleginnen gleich. Verbunden nur über die kleinen Kästchen auf Zoom.
Laura ist Lehrerin und hat gerade gemeinsam mit Kolleginnen den Mindful Coworking Tag begonnen. An manchen unterrichtsfreien Tagen bereitet sie so ihre Unterrichtsstunden vor. Das Ganze begann in der Corona-Zeit, als sie und andere sich durch den Online-Unterricht isoliert fühlten. Was als Experiment gedacht war, ist mittlerweile zweimal im Monat zur Routine geworden.
Die Freunde der achtsamen Arbeit
Wir arbeiten in den allermeisten Fällen nicht um der Arbeit willen, etwa weil die Arbeit so schön ist. Wir betrachten sie als notwendiges Übel, um unsere Ziele zu erreichen, sei es unsere Familie zu ernähren, ein Dach über dem Kopf zu haben oder für den nächsten Urlaub zu sparen. Das Tun bei der Arbeit, die Konzentration, Energie und Zeit, die wir dabei aufwenden, ist eine lästige Konsequenz dieses Handels. Gehen wir mit dieser Einstellung an die Arbeit, befinden wir uns unweigerlich in einer Abwehrhaltung gegenüber der Tätigkeit als solcher. Dies erzeugt in vielen Menschen Leid.
Achtsamkeit hingegen kann uns mit unserer Arbeit verbinden und dadurch mit uns selbst. Der Fokus liegt dann nicht mehr auf dem Ergebnis, sondern auf der Arbeit selbst. Dabei helfen unter anderem folgende "Freunde der achtsamen Arbeit":
• Single-Tasking: eine Tätigkeit beginnen, durchführen und beenden – und erst dann zur nächsten übergehen
• Kleine Schritte: Überfordert uns eine Aufgabe, teilen wir sie in mehrere kleine, bewältigbare Aufgaben auf
• Impulsdistanz: Die internen Impulse des Geistes und Körpers und die externen Impulse der Umgebung beobachten und ziehen lassen.
• Extralosigkeit: die Tätigkeit eine Tätigkeit sein lassen und die vielen mentalen und emotionalen Interpretationen beobachten und wieder gehen lassen
• Rechtes Maß: Die eigenen Grenzen der Belastbarkeit erkennen
• Transition: Einen bewussten Übergang zwischen den Arbeitstätigkeiten schaffen
• De-Identifikation: Die mentale Verknüpfung der Arbeit mit dem Ego loslassen
• Freude teilen: Die Freuden der Arbeit und des Erfolgs mit anderen teilen
• In Kontakt mit dem Atem bleiben
• Erlaubnis zur Leichtigkeit: „es darf auch leicht gehen“
• Kurze Achtsamkeitspausen (ALIs) und größere "Wahre Pausen" machen
Der halbe Arbeitstag ist geschafft und jemand lässt eine Glocke erklingen. Laura schließt die Augen und atmet bewusst aus. Sie ist überrascht, wie viel sie heute schon erledigt hat. Und sie bemerkt leichte Rückenschmerzen. Beide Erfahrungen dürfen da sein und wahrgenommen werden.
Nun ist es Zeit für das gemeinsame vegetarische Mittagessen. Dieses hat sie schon am Vortag vorbereitet, eine Linsensuppe mit Kokos. Jemand leitet eine Dankbarkeitsmeditation an, dann darf gegessen werden. Schmatzend und schlürfend sieht und hört sie ihre Kolleginnen durch den Computer, das Besteck klackert am Teller. Die Mikros werden bewusst angelassen, um in Kontakt zu sein, während im Schweigen gegessen wird.
Ein Beispiel achtsamer Arbeit
Bei der formellen Praxis dreht sich alles um die Achtsamkeit und wie wir zu ihr finden können – durch Scannen des Körpers, durch Beobachten des Atems und durch andere Meditationsformen. Bei achtsamer Arbeit geht es darum, die Achtsamkeit mit der jeweiligen Tätigkeit zu verbinden, in der Achtsamkeit zu bleiben, während wir handeln. Die Achtsamkeit ist dabei nicht mehr das primäre Ziel dieses Tuns, sondern ein Ausgangspunkt, eine Begleiterin, eine Nährlösung, ein Fundament für ein freudvolles und produktives Schaffen.
Nehmen wir als Beispiel „achtsames Kochen“. Ich koche eine Lasagne Bolognese. Das Handy wird in den Flugmodus gestellt, das Radio ausgeschaltet. Zuerst schneide ich eine Zwiebel und konzentriere mich dabei voll und ganz auf die Tätigkeit. Ich ziehe das Messer Schnitt für Schnitt durch die Zwiebel. Ich spüre den kühlen Saft der Zwiebel, der meine Haut benetzt. Ich nehme den Zwiebelgeruch intensiver als sonst war. Ich merke, dass ich es bin, der diese Erfahrungen sowohl auslöst als auch wahrnimmt. Ich mache weiter und merke, dass ich aus Gewohnheit gestresst bin, da alles schnell gehen muss. Ich erinnere mich, dass es auch leicht gehen darf. Das Hackfleisch kommt gemeinsam mit der Zwiebel in die heiße Pfanne. Es brodelt und zischt. Ich merke, dass zwischen mir und dem Fleisch eine besondere Beziehung besteht. Dass ein Lebewesen gestorben ist, damit meine Familie wertvolle Proteine bekommt. Ich merke, wie ich darüber mit meiner Umwelt verbunden bin. Etwas später ist die Mahlzeit fertig und meine Kinder und meine Partnerin kommen nach Hause. Ich freue mich, dass ich ihnen eine wertvolle Mahlzeit servieren kann. Ich nehme wahr, dass durch meine Arbeit, mein Tun etwas Positives entstanden ist, und dadurch meine Beziehung zur Arbeit gestärkt wurde.
So oder anders könnte eine Erfahrung achtsamer Arbeit aussehen. Dabei sind auch sicher nicht alle Erfahrungen positiv. Vielleicht merken wir, wie sehr uns gewisse Tätigkeiten anstrengen, oder wie sinnlos wir unseren Job empfinden. Zu achtsamer Arbeit gehört sicherlich eine gehörige Portion Selbstmitgefühl. Und doch sind auch die negativen Erfahrungen Einladungen für Veränderung und für mutiges Handeln. Ohne die Erkenntnis, dass es so, wie es jetzt gerade ist, nicht gut ist, werden wir keinen ersten Schritt der Veränderung machen.
Am Nachmittag geht es mit Teamarbeit weiter. Es bilden sich Kleingruppen zu einzelnen Fragestellungen und Projekten. Die Lehrerinnen unterstützen sich gegenseitig, bringen Ideen ein und arbeiten nacheinander an ihren jeweiligen Themen. Danach treffen sich alle nochmals im großen Raum für eine Abschlussrunde. Jede erzählt, was sie heute geschafft hat und wie es ihr beim achtsamen Arbeiten ging. Die anderen üben sich währenddessen im "tiefen Zuhören“ Die Klangschale beendet den achtsamen Coworking-Tag und Laura klappt, nach einer kurzen Verbeugung in die Gruppe, den Laptop zu. Auch dieses Mal bemerkt sie, wie freudig und leicht sie gearbeitet hat.
Wie funktioniert Mindful Coworking?
Beim Mindful Coworking kommen beide Elemente, Coworking und achtsames Arbeiten, zusammen. Es wird also gemeinschaftlich achtsam gearbeitet – jede/r für sich an einem realen eigenen Projekt oder einer Aufgabe, wie E-Mails, einem Text, einer Website, einer Excel-Tabelle usw.). Das kann bereits mit zwei Personen starten und ist bis zu ca. zehn Personen sinnvoll. Dabei trifft man sich in einem physischen Raum oder virtuell über eine Videokonferenz. Es macht Sinn, ähnliche Aufgaben zu wählen, wie z. B. Computeraufgaben, und es macht weniger Sinn, wenn eine Person viel Platz braucht und Lärm macht, während andere Ruhe brauchen. Telefonate sollten während des Coworking möglichst vermieden werden. Im Online-Format sollten die Kameras angelassen werden und die Mikros sind je nach Wunsch der Gruppe an, vielleicht bei den Personen, bei denen ein angenehmes Maß an Arbeitsgeräuschen erzeugt wird.
Um die Achtsamkeit während des Tages aufrecht zu erhalten, werden am Anfang und am Ende sowie zwischendurch kleinere und größere Achtsamkeitsübungen durchgeführt. Das können Achtsamkeitsglocken, Meditationen oder Körperübungen sein. Ein wichtiges Element ist auch das achtsame Sprechen, das durch eine Verbeugung in die Gruppe beim Beginn und am Ende des Redebeitrags unterstützt wird. Zusätzlich trägt einen die Gruppe und das Wissen, dass die anderen Teilnehmer:innen auch versuchen, achtsam zu arbeiten. Der ehrliche und vertrauensvolle Austausch zu den gemachten Erfahrungen rundet den Tag ab.
Der Mindful Coworking Tag
Da viele Elemente zusammenkommen, damit achtsames Coworking stattfinden kann, haben sich in der Szene die Mindful Coworking Tage etabliert. Das sind vereinbarte Termine, zum Beispiel einmal im Monat, an denen man sich physisch oder virtuell trifft, um einen Tag achtsam und gemeinschaftlich zu arbeiten. Vorab kann eine Agenda mit Pausen- und Ritualzeiten ausgeschickt werden. Es empfiehlt sich, eine:n Moderator:in zu bestimmen, der/die durch den Tag leitet.
So oder anders könnte ein achtsamer Coworking Tag, in Präsenz oder online, aussehen:
08:00 – 08:15 Eintreffen
08:15 – 08:30 Erklären des Ablaufs und teilen, woran man heute arbeiten möchte
08:30 – 08:50 Angeleitete Meditation
08:50 – 12:30 Gemeinsames Arbeiten – jede:r für sich in Stille
12:30 – 13:00 Mittagessen (davon die ersten 15 Minuten Ess-Meditation in Stille)
13:00 – 13:30 Wahre Pause
13:30 – 14:00 Achtsamer Spaziergang draußen oder angeleitete Körperübungen
14:00 – 15:15 Gemeinsames Arbeiten – jede:r für sich (bei Bedarf Sprechen/Kooperieren)
15:15 – 16:45 Gemeinsames Arbeiten an Themen/Projekten
16:45 – 17:00 Stilles Sitzen und Abschied
Auf der Website mindfulcoworking.com gibt es zudem die Möglichkeit online und kostenlos an 1,5 stündigen Mini Mindful Coworking Sessions teilzunehmen. Das Publikum ist international und die Moderation erfolgt auf Englisch.
Wie startet man mit Mindful Coworking?
Das Fundament ist sicherlich, eine gewisse Achtsamkeitspraxis und -routine zu haben. Klappt es am Meditationskissen schon etwas, kann die Achtsamkeit in den Alltag übertragen werden. Dabei gilt: Einfach starten und Erfahrungen machen. „Coworken“ kann man schon ab zwei Personen, wenn man sich in einem Café oder bei jemandem zuhause trifft. Das Ganze klappt aber genauso gut online. Baut ihr dabei noch zwischendurch kleine Achtsamkeitsübungen ein (wie eine Meditation oder achtsame Pausen), könnt ihr schon von Mindful Coworking sprechen. In welcher Intensität ihr dabei Achtsamkeitsübungen durchführt, ist euch überlassen. Weitere Informationen zu dem Thema erhaltet ihr beim Netzwerk Achtsame Wirtschaft.
Quellen und Ressourcen
Das Thema Mindful Coworking ist so neu, dass es noch wenig Literatur dazu gibt. Das Buch "Mindful Coworking" von Clark Balm, Kingsley Publishers 2013 geht leider in eine andere Richtung (freundliche Teamarbeit unter Kolleg:innen) und hat mit dem hier dargestellten Konzept wenig zu tun. Mittlerweile steht jedoch die erste Masterarbeit zu Mindful Coworking zum Download zur Verfügung:
Zum Thema achtsame Arbeit finden sich diese Bücher:
"Achtsam wirtschaften" von Kai Romhardt, Herder Verlag 2017; besonders Kapitel: „Wir sind die Arbeit“
"Achtsam arbeiten, achtsam leben" von Thich Nhat Hanh, O. W. Barth Verlag 2013
Der hier erschiene Artikel baut in großem Maße auf Erfahrungen und Texten des Netzwerk Achtsame Wirtschaft unter der Leitung von Dr. Kai Romhardt auf, die wichtige Quellen darstellen. Der hier erschiene Artikel wurde zudem mit freundlicher Genehmigung des AVE Instituts veröffentlicht, in dessen Auftrag er für die Lehrer:innenfortbildung erstellt wurde. Das AVE Institut Deutschland ist eine gemeinnützige Organisation zur Förderung von Achtsamkeit in der Pädagogik.
Ausblick
Gemeinsames achtsames Arbeiten ist in Mitteleuropa noch ein sehr neues Feld, das aber stark an Popularität zunimmt. Interessant ist dabei vor allem, welche Elemente dieser neuen Arbeitsform als besonders wertvoll hervortreten und damit das Potenzial haben, die Transformation der heutigen Arbeitswelt, von Teams und Organisationen zu prägen. Es wird zum einen wissenschaftliche Forschung und zum anderen mutige und experimentierfreudige Pionier:innen brauchen, damit diese neuen Wege für viele Arbeitnehmer:innen greifbar werden. Legen wir los!
Zum Autor
Raphel Mammerler MSc., gebürtiger Wiener, arbeitet im deutschsprachigen Raum als Trainer und Coach mit Menschen die sich beruflich neu orientieren. Er forschte, im Rahmen seines Masterstudiums der Achtsamkeit, an den Wirkmechanismen und Effekten des Mindful Coworking.
Bei weitergehenden Fragen oder Interesse an gemeinsamen Mindful Coworking Events schreiben Sie an: coaching@raphaelmammerler.com.
Comentarios